Resting Bitch Face
31. August 2017KEIMADVENT FÜR CHRISTINA
20. Dezember 2017Es geht mir nicht gut. Mir geht es nicht gut. Es geht mir gar nicht gut.
Wieso? Ist mir oder jemandem, den ich liebe, gerade etwas zugestoßen?
Bereitet mir körperlich etwas Schmerzen?
Habe ich soeben etwas verloren, aufgeben müssen?
Nein. Nein. Mmmh, Moment … nein.
Aber es geht mir nicht gut. ‚In meinem Kopf, weißt du?‘
‚Nein, weiß ich nicht‘, höre ich meinen Hund sagen, ‚ich weiß nicht, was du meinst. Tut dein Kopf weh? Wirfst du mir den Ball?‘
Ja, mein Kopf tut irgendwie weh, aber es ist keine Migräne. Das Gefühl ist nicht neu, nur seit Tagen intensiver als sonst.
Es geht mir nicht gut. Ich stehe auf, es geht mir nicht gut, ich erledige Dinge und es geht mir nicht gut, ich lege mich ins Bett, jetzt geht es mir noch eine Spur schlechter.
Und irgendwann ist es soweit.
Ich höre die Worte in meinem Kopf laut und deutlich: HÖR AUF. Ich. Bin. Durch. Ich bin damit durch!
Es ist still, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde.
‚Das ist ja niedlich‘, säuselt die Stimme dann, ‚hast du’s langsam? Ich werde nämlich gerade erst warm! Achtung, hier kommt die nächste Gedankenlawine für dich!‘
‚Wer spricht denn da in deinem Kopf?‘, fragt mich mein Hund.
‚Das ist mein Verstand‘, erkläre ich ihm. ‚Er holt mich in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Er spielt mir Situationen vor, die stattgefunden haben oder er zeigt mir eine Idee davon, wie zukünftige Situationen an verschiedensten Tagen an unterschiedlichen Orten mit diversen Menschen aussehen könnten.
Er fragt mich auch immer wieder etwas, um anschließend meine Meinung dazu zu hinterfragen, zu kritisieren oder auch zu loben.‘
‚Was ist Vergangenheit und Zukunft?‘ fragt mich mein Hund.
‚Das ist alles, was nicht jetzt ist.‘
‚Du meinst, du hast in deinem Kopf eine Maschine, mit der du in eine andere Zeit reisen kannst, obwohl du hier bist?‘
‚Genau. Toll eigentlich, oder? Mit dem Verstand kannst du dir jederzeit alles vorstellen, ausmalen, darüber nachdenken und dich an vieles erinnern!‘
‚Warum willst du woanders sein als dort, wo du gerade bist?‘
‚Um zum Beispiel in Zukunft besser oder anders mit einer ähnlichen Situation umgehen zu können als in der Vergangenheit!‘
‚Aber diese Situation gibt es doch gar nicht wirklich.‘
‚Noch nicht, es gibt sie noch nicht! Aber vielleicht gibt es sie noch einmal in einer ähnlichen Form und dann bin ich vorbereitet.‘
‚Du meinst, du bist lieber in einem ausgedachten Moment, den es nur in deinem Kopf gibt, anstatt den echten Moment zu leben, der gerade passiert?‘
‚Wenn die Situation in meinem Kopf aufregender ist, als die, die gerade passiert, ja.‘
‚Was ist so unaufregend an der echten Situation? Ich finde es ziemlich aufregend! Verschiedene Düfte, Geräusche, tausend Farben, das alles genügt dir nicht, um hierzubleiben?‘
Ich verteidige meinen Verstand: ‚Er ist ja eigentlich ein tolles Werkzeug, weißt du. Wir sollten ihn nicht dazu gebrauchen, um sinnlose Gedankenstrudel zu erzeugen. Nur fällt mir das momentan sehr schwer.‘
Mein Hund schaut mich an. ‚Du gebrauchst deinen Verstand auch nicht. Er gebraucht dich. Sonst könntest du ja ganz einfach aufhören, in dieser Zeitmaschine herumzureisen. Da zwingt dich ständig jemand, woanders zu sein, obwohl du in Wirklichkeit, im Jetzt, mit mir hier bist und spazieren gehst. Kein Wunder, dass du glaubst, unglücklich zu sein. Wie nennt ihr das, wenn etwas nicht wirklich ist?‘
‚Illusion, Dr. Freud. Aber ich bin doch hier, ich denke JETZT. Und dieses JETZT gefällt mir nicht. Ich will, dass es anders ist.‘
‚Du bist eben nicht hier. Du schläfst und träumst, obwohl dein Avatar eigentlich wach ist. Vom echten Moment siehst du nichts, hörst du nichts, spürst nichts. Du wertest andauernd, magst, magst nicht, denkst dich woanders hin und über Dinge nach, lehnst ab, nimmst nicht an. Wie viele Autos sind während unserem Gespräch schon vorbeigefahren?‘
‚Ich weiß nicht. Wieso sollte das wichtiger sein als meine Gedanken? Motorenlärm nervt mich außerdem.‘
‚Du wertest schon wieder. Es geht nicht darum, ob es wichtiger ist. Oder schön. Gut oder schlecht. Der Moment ist, wie er ist.‘
‚Aber unsere Gedanken machen uns Menschen doch aus! Daraus entsteht Persönlichkeit, unser Selbstwertgefühl, unser Charakter. Was wären wir denn ohne all diese Dinge?‘
‚Dann wärt ihr endlich das, was ihr wirklich seid.‘ antwortet mein Hund.
‚Oh bitte, jetzt komm mir nicht mit diesem esoterischen Buddha-Quargel!‘ antworte ich. ‚So hab ich dich nicht erzogen. Ich lebe lieber in der echten Welt.‘
‚Ha, das ist lustig! Sitzt da drinnen in ihrer Zeitmaschine und spricht von der echten Welt.‘
‚Ja. Lieber setze ich mich unglücklich in meinem Kopf mit realen Dingen auseinander anstatt im Schneidersitz dämlich in der Gegend herumzugrinsen.‘
‚Jetzt spricht zum Beispiel dein Ego aus dir. Im Zynismus fühlt es sich immer ganz stark und überlegen. Oder wenn es den Erklärbären raushängen lassen kann. Deshalb habe ich dich vorhin gefragt, was Zukunft ist und was Vergangenheit ist.
Damit du gescheiter Mensch dem dummen Hund dein Wissen mitteilen kannst und dein Ego nicht sofort in seine gewinnsüchtige Abwehrhaltung geht. Aber weißt du was? Selbst ein blinder Wurm kann sehen, wie ferngesteuert ihr durch euer Leben schlafwandelt und euch in eurem Gedankenbrei auch noch überhaben über alles fühlt. Wie ihr jeden Moment und damit euer ganzes Leben verpasst. Es ist nämlich genau umgekehrt: Das, was ihr paradoxerweise Esoterik nennt, ist die Wirklichkeit! Dieser Moment gerade, das ist das einzig Reale. Außerhalb eures Kopfes. Du sagst doch selbst: In deinem Kopf geht es dir nicht gut. Komm raus aus deinem Kopf und du wirst sehen, dass im Jetzt nichts fehlt.‘
Ich spüre Wind und gleichzeitig Sonne in meinem Gesicht. Es ist Herbst. Wieso begreife ich das so plötzlich?
Es ist schön.
Und dann schon wieder vorbei.
‚Ich soll also herumsitzen, tatenlos und stupide lächeln, ohne nachzudenken? Tolle Aussicht.‘
‚Im Gegenteil. Du würdest dich wundern, wie produktiv, kreativ und schöpferisch du sein kannst, wenn du loslässt.‘
‚Aber das ist doch auch nur eine Illusion! Nur weil ich nicht darüber nachdenke, heißt es nicht, dass es nicht da ist.‘
‚Deine Gedanken, Sorgen, Ängste und Grübeleien verändern nichts an dieser Welt, nichts an deinem Job, nichts in deiner Familie, Beziehung, nichts. Aber sie verändern dich, wie man sieht. Und fast alle Menschen um dich herum. Schau‘ dich um! In der U-Bahn, im Café, beim Einkaufen oder im Stau. Schau‘ den Menschen ins Gesicht. Wie sie ihr ganzes Leben lang durch die Welt gehen und dabei in ihrer Zeitmaschine sitzen, tagein, tagaus. Über 7 Milliarden Zeitmaschinen voller Träume, Vorstellungen, Ängste, Sorgen, Wünsche und Ärgernisse und jeder Einzelne glaubt, die Welt würde sich um ihn und seine Illusionen drehen.‘
‚Und das Nicht-Nachdenken soll der Schlüssel zum Glück sein?‘
‚Der Schlüssel zum Glück liegt im Jetzt. Denke nach, wenn du wirklich den Entschluss gefasst hast, jetzt etwas zu tun. Dann gebrauche deinen Verstand bewusst. Und wenn du im Jetzt nichts tun kannst oder willst, dann gib dich hin. Der totalen Akzeptanz.
Jammere nicht, sorge dich nicht sinnlos. Steig‘, wann immer du nichts an einer Situation ändern, verbessern kannst oder willst, aus deiner Zeitmaschine aus und komme ins Jetzt, in den Moment!‘
‚Aber ich bin kein Tier und kein Buddhist und ich will verdammt noch einmal mehr als diesen Moment. Wir wollen doch alle immer mehr!‘
‚Es gibt nicht mehr. Es gibt nicht weniger. Es ist mehr als ausreichend und es ist egal, ob du ein Mensch oder ein Tier, ein Buddhist, ein Atheist, ein Christ, eine Pflanze, ein Bakterium oder ein Stein bist: Dieser Moment ist alles, was du hast. Er ist alles, was du jemals haben wirst.‘
‚Ich kann zum Mond fliegen, ich kann Millionär werden, ich kann die Weltherrschaft an mich reißen!‘ versuche ich zu witzeln.
‚Das kannst du. Und du wirst trotzdem genau immer diesen einen Moment haben. Es gab noch niemals einen Zeitpunkt, an dem dein Leben nicht im Jetzt stattgefunden hat.
Es wird niemals ein Zeitpunkt kommen, an dem dein Leben nicht im Jetzt stattfindet. Es mit all deinen Sinnen zu erfassen ist das Höchste, das du erreichen kannst!‘
‚Na gut. Ich kann das mit dem Grübeln und dem Sorgen verstehen. Aber wenn ich über schöne Dinge nachdenke und von ihnen träume? Dann fühle ich mich toll!‘
‚Ja, aber nicht lange. Du wirst bald Sehnsucht empfinden oder Traurigkeit, weil es nicht mehr ist und du wirst dir wünschen, dass etwas Ähnliches wieder kommt und dir einreden lassen, dass du dann wieder glücklicher wärst.
Das wirst du vielleicht auch sein, ganz kurz und an der Oberfläche. Und dann brauchst du wieder das Nächste, auf das du geifern kannst. Ich beweise es dir:
Wer oder was hat dich bis zum heutigen Moment glücklich gemacht?‘
‚…‘
‚Richtig. Nichts und niemanden hat es bisher gegeben in dieser Welt. Das weißt du aus Erfahrung!
Frag ihn doch, deinen klugen Verstand. Er wird dir einzureden versuchen, dass du diese eine Aufgabe im Leben, diese Person, diese Liebe, dieses Ding, diese Antwort nur noch nicht gefunden hast.
Dass du den schönsten Moment noch vor dir hast!
Dein Verstand rät dir, zu träumen und zu warten. Auf den Feierabend, das Wochenende, den nächsten Urlaub, das Ende des Staus, das Großwerden der Kinder, auf die Beförderung, die große Liebe, auf Anerkennung, die Eigentumswohnung, und dann, wenn dann, ja dann, dann, dann.
Dein Verstand und dein Ego werden dich immer wieder glauben lassen, dass du irgendetwas brauchst, um im Moment glücklicher zu sein.
Hier ist die Wahrheit: Es gibt da draußen nichts, nichts, nichts und niemanden mit deinem Glück! Und tief in dir spürst du das auch.
‚Und es macht mir Angst. Ich will es nicht glauben.‘
‚Glaub es ruhig.
Du hast das Glück in dir. Schon die ganze Zeit.
Lass los.‘
Ich höre einen Vogel zwitschern und Blätter im Wind rascheln. Es ist nur ein Bruchteil einer Sekunde. Plötzlich wird mir bewusst, dass die Melodie in dieser Form, in Zusammenspiel mit dem Licht und den Gerüchen, einmalig ist und ich es so nie wieder erleben werde. Es ist schön. Es ist gut.
Der Bruchteil einer Sekunde ist kurz, kaum da, schon wieder weg. Sie ist wieder da, die Stimme.
‚Meine Stimme sagt mir in diesem Moment, dass das alles abergläubisch-romantischer Schmarrn ist und ich nur weitersuchen- und streben muss, dass du ein Hund bist und ich mich nicht verarschen lassen soll. Dass das Leben kurz ist und ich verdammt noch einmal einfach kaufen soll, was ich will, mich hinreißen lassen soll, wozu ich will, fühlen soll, wie ich will.‘
‚Dein Ego und dein Verstand werden immer um ihre Existenz kämpfen und dich dazu ermutigen, dich abzulenken und wegzuschauen. Sie sind so programmiert.
Halt nur daran fest, halte sie ganz, ganz fest. Keine Sorge, niemand wird sie dir wegnehmen.
Dich von Ego, Verstand und Zeit zu befreien und somit kein Leid mehr für dich und für andere zu erschaffen, ist eine bewusste Entscheidung. Du wirst sie nur treffen, wenn du wirklich genug gelitten hast, wenn du oft genug enttäuscht worden bist.‘
‚Wieso muss ich dazu auch die Zeit, die Vergangenheit loslassen?‘
‚Weil du sie nicht brauchst. Sie entscheidet nicht, wer du jetzt bist.‘
‚Aber das, was ich erlebt habe, lässt mich doch heute entsprechend denken, fühlen und handeln!‘
‚Und all das hindert sich daran, jetzt zu sein. Dass du denkst, dein Erlebtes zu sein und danach handelst, liegt nur daran, dass du immer dasselbe denkst, heute wie damals!
Identifiziere dich nicht länger mit deinem Verstand und deiner Vergangenheit. Du bist nicht diese Stimme in deinem Kopf, du bist nicht dein Ego und auch kein Label. Dass es dir schlecht geht, ist eine Illusion, eine Vorstellung, ausgelöst durch Gedanken, die wiederum Emotionen verursachen. Daraus entsteht deine permanente Unruhe, die Unzufriedenheit, das Wollen, das Nicht-Wollen.
Es sind nur Gefühle! Beobachte sie, erkenne sie an. Aber identifiziere dich nicht mit ihnen! Du bist nicht das Unglück, die Wut oder die Lust und du bist auch sonst keine Emotion. Du bist wunderbar, du bist so viel weniger, als du glaubst und gleichzeitig bist so viel mehr! Lass los.‘
‚Wer oder was bin ich dann?‘
‚Das wirst du herausfinden. Du bist dann am Ende des Leidens.‘
‚Ich kann mir nicht vorstellen, jemals dort anzukommen.‘
‚Du hast recht, du wirst niemals dort ankommen. Weil du schon dort bist.
Jetzt.
Wach auf!
Wirf mir den Ball!‘
1 Comment
Jetzt die kraft der Gegenwart, sehr schön geschrieben.